Else Panneks Website Narzissenleuchten.de

 

 

 

Alles bleibt irgendwo


Ich weiß noch heute, wie es war, in einem hellen, sonnendurchfluteten Schlafzimmer aufzuwachen. Das Fenster war geöffnet und die Vögel sangen. Ich lag in meinem eisernen, verschnörkelten Kinderbett. Es war blau und hatte auf jeder Ecke eine golden glänzende Messingkugel. Auf der Fensterbank im Wohnzimmer saß ich bei Gewitter. In die Arme meiner Mutter gekuschelt schaute ich hinaus. — Meine Mutter hatte Angst vorm Gewitter. Auf diese Art, so hoffte sie, würde mir das erspart bleiben.

Am Wohnzimmerfenster hockten wir auch, um das Feuerwerk bei Hagenbeck zu sehen.

Am Ende des Flures, zwischen dem Wohnzimmer und der gegenüberliegenden Küche, befand sich die Speisekammer. In deren Fenster, das zu den Schrebergärten hinausging, hatten Schwalben ihr Nest gebaut. Und darunter versteckten meine Eltern die Flugblätter. Das wussten nur sie.

Meine Mutter konnte wunderbar erzählen. Sie saß dann am Küchenfenster und ich auf einem Schemel zu ihren Füßen. Die Goldmarie hatte alle guten, erstrebenswerten Eigenschaften. Aber die Pechmarie, die rutschte auf den Knien und hatte gestopfte Strümpfe. Ich sah auf meine an den Knien gestopften Strümpfe und lächelte zu meiner Mutter hinauf: "Das tu ich doch nicht mehr — nicht Mutti?"

Oliver Twist wurde kleinkindgerecht erzählt und verstanden. Aber die Geschichte von dem kleinen Mädchen, das bei einer Hausdurchsuchung den Polizisten verriet, dass die gesuchte Schreibmaschine weggebracht worden ist, die blieb mir ein Rätsel. Es gab bei uns Hausdurchsuchungen. Die müssen so bedrohlich gewesen sein, dass ich keine Erinnerung daran habe. Wenn ich jedoch meine Abneigung gegen Lärm bedenke, dann waren sie laut.

Als ich größer war, wurde mir berichtet, was sich zugetragen hatte.
Mein Vater musste sich vor der damaligen Regierung ins Ausland retten. Ich war zu klein, um das zu verstehen. Für mich war er weg. — Immer wieder soll ich die Wohnung nach meinem Vater durchsucht haben, jeden Raum, jeden Schrank, jeden Winkel.

Meine Mutter wurde mehr als einmal abgeholt und ich zu den Großeltern gebracht. Dann gingen zwei Polizisten, meine Mutter, mein Teddy und ich vom oberen Teil der Niendorfer Straße zur Tarpenbeckstraße hinunter.

Mein Teddy musste mal, und ich hielt ihn am nächsten Baum ab. Er musste immer wieder und ich hielt ihn immer wieder ab, an jedem Baum, die ganze Niendorfer Straße entlang. Die Polizisten und meine Mutter standen daneben und warteten. —
Später, so ohne jede Erinnerung, nur vom Erzählen gewusst, stellte ich mir das bildlich vor. Und da war es in meinen Augen ein Gag.

Endlich war meine Mutter wieder da, endlich waren wir wieder zu Hause und endlich lag ich wieder in meinem blauen Bett mit den goldenen Kugeln. — Mich packte die Angst, verlassen zu werden, während ich schlief. Ich krabbelte in das Bett meiner Mutter, legte mich auf sie und hielt sie fest. Aufwachen und vergewissern, dass sie noch da ist, waren eins.

Die Polizisten der Wache Martinistraße, die meine Mutter abholen mussten, schenkten mir zu Weihnachten ein Essbesteck. Das hatte ich lange, und ich weiß noch heute, wie es aussah. — An die frühen Ängste gibt es keine Erinnerung.

Und doch blieben sie irgendwo.

Jahrzehnte später: Es ging mir unbeschreiblich schlecht.
Die Knie schlotterten und ich hatte Mühe, auch nur den kleinsten Weg zu gehen. Es war wie Weltuntergang. —

"Ich fühl mich so klein," sagte ich. Andere Worte hatte ich nicht. "Wie klein?" wurde ich gefragt, und eine Hand zeigte: klein, kleiner, noch kleiner. "So," sagte ich und befand mich wieder in der Niendorfer Straße. "Ich wusste es!", war mir plötzlich klar, "ich wollte Zeit gewinnen!" — Mich brachte das Gefühl von damals wieder dorthin zurück. — So muss ich mich als kleines Kind gefühlt haben, als man meine Welt zerstörte. Und das blieb irgendwo ———


Juni/Juli 2008